Die Neue Münchner Gruppe (1964-1972)

Digitale Filmklappe

INHALT

  1. Begriff und Entstehung
  2. Unterschiede zur Oberhausener Gruppe
  3. Gemeinsamkeiten mit der Oberhausener Gruppe
  4. Bedeutung in der Filmgeschichte
  5. Neuere Forschungsarbeiten in der Filmwissenschaft
  6. Dokumentarfilm „Zeigen, was man liebt“

Begriff und Entstehung

Nach dem Oberhausener Manifest 1962 bildete sich in München-Schwabing die Neue Münchner Gruppe, die ungefähr von 1964 bis 1972 bestand.

Die Bezeichnung geht zurück auf den Journalisten und Filmhistoriker Enno Patalas. Er war Chefredakteur von 1957 bis 1970 der Zeitschrift Filmkritik und zählte zu den wichtigsten, westdeutschen Filmkritikern.

Enno Patalas schrieb 1966 den Film-Artikel Ansichten einer Gruppe (Filmkritik 05/1966, S. 247 ff.).

Darin bezeichnete er erstmals die Regisseure Klaus Lemke, Eckhart Schmidt, Rudolf Thome, Max Zihlmann, Peter Nestler und Jean-Marie Straub als Neue Münchner Gruppe.

Nachdem Nestler und Straub nicht in München blieben, bestand die Neue Münchner Gruppe schließlich aus den folgenden jungen Filmemachern und Regisseuren:

Klaus Lemke, Rudolf Thome, Max Zihlmann, May Spils, Werner Enke, “Boris” Marran Gosov, Dieter Geissler, Martin Müller und Eckhart Schmidt.

Pressefoto für den Kinofilm „Zur Sache Schätzchen“ mit Werner Enke und May Spils an einer analogen Arri-Film-Kamera stehend
Standfoto für „Zur Sache Schätzchen“: May Spils, Werner Enke
Standfoto am Waldrand von Dreharbeiten für den Kino-Film „Nicht fummeln Liebling !“ mit Regisseurin May Spils auf einem Alfa Romeo Cabrio mit offenem Verdeck stehend, auf dessen Motor eine Filmkamera montiert ist, im Cabrio sitzt Schauspieler Werner Enke
Standfoto für „Nicht fummeln Liebling !“: May Spils, Werner Enke

Enno Patalas nahm beim Begriff Neue Münchner Gruppe Bezug auf den Filmkritiker Wilfried Berghahn, der 1963 einen Artikel mit dem Titel Münchner Schule (Filmkritik 04/1963 S.156 ff.) geschrieben hatte.

Darin hatte er die Regisseure Alexander Kluge, Edgar Reitz, Peter Schamoni und Herbert Vesely als Münchner Gruppe bezeichnet.

Diese vier Regisseure waren Unterzeichner vom » Oberhausener Manifest und 5 bis 10 Jahre älter als die Filmemacher der Neuen Münchner Gruppe, die seinerzeit bereits zu einer “zweiten Generation” junger Filmemacher in München zählten.

Etwa acht Jahre lang von 1964 bis 1972 drehte die Neue Münchner Gruppe als loser Zusammenschluss und teilweise an den gleichen Drehorten zusammen Filme – meistens Kurzfilme.

Die Mitglieder der Gruppe kannten sich untereinander gut und lebten ansonsten wie die meisten Hauptfiguren in ihren Filmen:

Sie gingen gemeinsam ins Kino, verbrachten die Zeit zusammen in Schwabinger Kneipen mit flippern, spielen, trinken oder diskutieren, ließen den Tag an sich vorbeiziehen und genossen das Leben träumerisch mit nicht zu großem Arbeitseinsatz.

Unterschiede zur Oberhausener Gruppe

Von den filmischen Querdenkern des Oberhausener Manifests, der Oberhausener Gruppe, unterschied sich die Neue Münchner Gruppe wie folgt:

  • Es wurde keine revolutionäre, gesellschaftspolitische Ideologie vertreten

  • Es gab keine feste Gruppen-Definition

  • Es gab keinen akademisch-intellektuellen, strengen Ansatz wie beim Oberhausener Manifest

  • Es wurde oft bewusst auf Perfektion und beim Drehen auf ein striktes Drehbuch verzichtet

Dadurch wirkten die Filme der Neuen Münchner Gruppe experimentierfreudiger, emotionaler, verspielter, authentischer und wilder als die Filme, die in der Filmgeschichte dem » Neuen Deutschen Film zugerechnet werden.

Besonders wollte die Neue Münchner Gruppe durch ihre Filme die Ungezwungenheit und Unbekümmertheit des Schwabinger Lebensgefühls zum Ausdruck bringen.

Das lässige Lebensgefühl in München-Schwabing war seinerzeit geprägt durch eine Mischung aus möglichst das Leben geniessen, südlichem Flair und dem Ablehnen verstaubter, bürgerlicher Einschränkungen und Vorstellungen.

Die junge Regisseurin May Spils wurde ganz im Sinne dieser Lebensphilosophie zum Spielfilm-Debüt von Zur Sache Schätzchen zitiert:

“Man sollte endlich die Langeweile aus den Kinos vertreiben und das haben die Herren vom Jungen Deutschen Film bisher kaum geschafft.”

(DER SPIEGEL Nr. 53/25.12.1967: Der junge deutsche Film – Kino zwischen Kunst und Kasse)

“Ich habe, was meine eigene Arbeit angeht, keine revolutionär-ideologischen Vorstellungen im Sinne des Oberhausener Manifests. Ich möchte vor allem kein verstaubtes Kino machen”.

(Film-Dienst, 04/1968)

Um es in einem Satz auszudrücken: Die Oberhausener Gruppe wollte politische Filme drehen und die Neue Münchner Gruppe Unterhaltungsfilme rund um das seinerzeit lockere Schwabinger Lebensgefühl.

Gemeinsamkeiten mit der Oberhausener Gruppe

Folgende drei Gemeinsamkeiten der Neuen Münchner Gruppe und der Oberhausener Gruppe gibt es:

  1. Beide Gruppen wollten das westdeutsche Kino verjüngen

  2. Beide Gruppen wollten das bis dahin etablierte Studio-Kino überwinden, bei dem der Produzent Hauptentscheider war und überwiegend Roman-Vorlagen verfilmt wurden.

  3. Beide Gruppen folgten der Bewegung “Nouvelle Vague” (französisch: Neue Welle) in Frankreich

Die Nouvelle Vague wollte ein neues Autorenkino etablierten, bei dem der Regisseur maßgeblicher Autor und Entscheider in einer Filmproduktion war.

Die Nouvelle Vague entstand Ende der 1950er Jahre in Frankreich um die jungen Filmemacher und Regisseure Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Éric Rohmer, Jacques Rozier und François Truffaut.

Wie ihre französischen Vorbilder verwirklichten die jungen deutschen Filmemacher der Oberhausener Gruppe und der Neuen Münchner Gruppe in der alten West-BRD einen neuen Autorenfilm.

So konnten sie ihrem Film eine individuelle Handschrift verleihen und ihre künstlerische Vision umsetzen.

Bedeutung in der Filmgeschichte

Die Neue Münchner Gruppe war eine eigenständige Strömung in der deutschen Filmgeschichte, die in der Kernzeit ihres Bestehens parallel zur Oberhausener Gruppe existierte.

Allerdings hatte im Vergleich zu den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests die Neue Münchner Gruppe in vielen Bereichen ein anderes Verständnis von Film.

Aus diesem Grund werden die Filme der Neuen Münchner Gruppe aus den 60er und 70er Jahren in der Filmgeschichte nur am Rande im Zusammenhang mit dem Neuen Deutschen Film erwähnt.

Das zeigt das Beispiel des Filmemacher-Duos May Spils und Werner Enke, deren erfolgreichster Film, Zur Sache Schätzchen, folgerichtig nicht dem Neuen Deutschen Film zugerechnet wird.

Das original Kino-Plakat von "Zur Sache Schätzchen" und dem Titel "Ein Film, der schnell zur Sache kommt“ mit den Schauspielern Uschi Glas in weißem Mieder sowie Rainer Basedow und Joachim Schneider als Polizisten auf der Polizeiwache
Original Kinoplakat von Zur Sache Schätzchen
Das original rote Kino-Poster von „Zur Sache Schätzchen“ und dem Titel „Ein Film, der schnell zur Sache kommt“ mit den Schauspieler Werner Enke und Uschi Glas (in weißem Mieder) auf einem Bett sitzend und angedeutet beim „fummeln"
Original Kinoposter von Zur Sache Schätzchen

Wird Zur Sache Schätzchen dennoch dazugezählt, dann wegen seiner Entstehung zur Zeit des Neuen Deutschen Films oder seiner Eigenschaft, ein Autorenfilm zu sein.

Dabei würde vernachlässigt, dass May Spils und Werner Enke der Neuen Münchner Gruppe angehörten und nicht die inhaltlichen Vorstellungen der Oberhausener Gruppe zum Neuen Deutschen Film teilten.

Spils/Enke drehten in der Zeit der Neuen Münchner Gruppe noch den mit dem Ernst-Lubitsch-Preis ausgezeichneten Kinoerfolg Nicht fummeln Liebling ! (Kinostart: 9. Januar 1970).

Nach der Auflösung der Neuen Münchner Gruppe etwa um das Jahr 1972 folgten noch drei weitere Spielfilme der beiden Filmemacher, die der Machart der ersten beiden Filme ähnelten:

Hau drauf, Kleiner ! (1974), Wehe, wenn Schwarzenbeck kommt … (1979) und Mit mir nicht, du Knallkopp / Aktion Schmetterling (1983), die 2023 digital restauriert erscheinen sollen.

Um eine Vorstellung zu vermitteln, wie die Dreharbeiten seinerzeit verliefen, eignen sich die Erinnerungen von Mike Gallus, Filmfotograf und Absolvent der Filmhochschule München 1972, sehr gut.

Mike Gallus (vgl. » Filmografie und Vita) war zeitweise Tonmann für die 4. Filmkomödie Wehe, wenn Schwarzenbeck kommt … des Erfolgsduos Spils/Enke.

Er hat seine Erinnerungen an die Dreharbeiten in München-Schwabing 1978 wie folgt formuliert:

» Zu den Erinnerungen an Dreharbeiten in Schwabing für Wehe, wenn Schwarzenbeck kommt …

Neuere Forschungsarbeiten in der Filmwissenschaft

Zur Neuen Münchner Gruppe sind im Zusammenhang mit dem Millionenerfolg 1968 Zur Sache Schätzchen zwei Studienarbeiten erschienen:

  • Filmakademie Baden Württemberg in Ludwigsburg

    Studienfach Film- und Medientheorie, Christian „Grisi“ Ganzer (SS 1994): „Zur Sache, Schätzchen – Ein Film, sein Umfeld und die Folgen“

  • Freie Universität Berlin

    Institut für Theaterwissenschaft, Seminar für Filmwissenschaft, Louisa Manz (WS 2012/2013): „Zur Sache, Schätzchen – ein Neuer Deutscher Film ?“

In der jüngsten Filmwissenschaft hat sich der Begriff der Neuen Münchner Gruppe als eigenständige Stilrichtung im westdeutschen Film der Jahre 1964 bis 1972 etabliert:

So bringt der Sprachwissenschaftler und Filmwissenschaftler Prof. Dr. Marco Abel ein Buch heraus mit dem Titel “Mit Nonchalance am Abgrund – Das Kino der » Neuen Münchner Gruppe « (1964–1972)”:

Schwarzes Buchcover mir weißer Schrift » Mit Nonchalance am Abgrund – Das Kino der Neuen Münchner Gruppe (1964–1972) « von Marco Abel (Transcript-Verlag Edition Kulturwissenschaft)
Buchcover » Mit Nonchalance am Abgrund – Das Kino der Neuen Münchner Gruppe (1964–1972) « von Marco Abel

Professor Marco Abel (Dr. phil.) lehrt Anglistik und Filmwissenschaft an der University of Nebraska in den USA und vertritt die Auffassung, dass die Neue Münchner Gruppe eine der interessantesten Strömungen zwischen 1964 und 1972 in westdeutschen Kinos gewesen ist.

Sie beherrschten mit ihren Filmen die bis heute verkannte Kunst, “dem damals erst aufkommenden neoliberalen Abgrund ins sprichwörtliche Auge zu schauen und trotzdem gelassen zu bleiben.”

Dokumentarfilm „Zeigen, was man liebt“

Zeigen, was man liebt ist ein preisgekrönter Dokumentarfilm (Filmfest München, Nordische Filmtage Lübeck) der Filmemacher Frank Göhre, Borwin Richter und Torsten Stegmann aus dem Jahr 2016.

Erzählt wird, wie die noch unbekannte, junge Schauspielerin Iris Berben mit dem Filmkritiker Uwe Nettelbeck von Hamburg nach München reist und dort auf eine Gruppe junger Filmemacher trifft.

Es handelt sich um jene lose miteinander verbundene Neue Münchner Gruppe von Filmemachern, die sich vorwiegend in Schwabinger Kneipen und bei Spätvorstellungen in Münchner Kinos trifft.

Sie alle eint ihre Begeisterung für die Filme der französischen Nouvelle Vague und US-amerikanischer Regissieure wie John Ford, Samuel Fuller oder Howard Hawks.

Filmplakat mit Logo "34. Filmfest München 2016) Logomat Filmproduktion präsentiert Zeigen was man liebt von Frank Göhre, Borwin Richter, Torsten Stegmann, Mitwirkende: Iris Berben, Werner Enke, Wolfgang Glaser, Dominik Graf, Klaus Lemke, Olaf Möller, Martin Müller, May Spils, Rudolf Thome und Max Zihlmann, Das Kino der Münchner Gruppe - Dokumentarfilm, Roland Betrtram (Kamera), Giuseppe Gagliano (Ton&Sound Design), Elmar Podlasky (Schnitt), Günther Albien (Colorgrading)
Bild: Filmplakat des Dokumentarfilms » Zeigen, was man liebt « (2016) von Frank Göhre, Borwin Richter und Torsten Stegmann, Mitwirkende: Iris Berben, Werner Enke, Dominik Graf, Wolfgang Glaser, Klaus Lemke, Olaf Möller, Martin Müller, May Spils, Rudolf Thome und Max Zihlmann

Schauspielerin Iris Berben, die seinerzeit über Nacht zum Star der „Neuen Münchener Gruppe“ wurde, nimmt in Zeigen, was man liebt die Zuschauer mit auf eine Zeitreise durch die Jahre 1964 – 1970.

Ihre Zeitreise ist gespickt mit Kurzfilmausschnitten und Interviews mit den Protagonisten jener vergangenen Kino-Ära wie Werner Enke, Dominik Graf, Wolfgang Glaser, Klaus Lemke, Olaf Möller, Martin Müller, May Spils, Rudolf Thome und Max Zihlmann.

Gezeigt werden die vielseitigen Arbeiten und Verbindungen der Autoren, Darsteller, Kamera- und Ton-Leute, Produzenten, Regisseure und privaten Finanziers im Umfeld der Neuen Münchner Gruppe.

Zeigen, was man liebt dokumentiert jene „Leichtigkeit des Seins“ und den wilden Geist, der seinerzeit die Filmemacher der Neuen Münchner Gruppe prägte.

Ebenso ihre Lebensfreude, Leidenschaft und Radikalität, mit der sie ihre Filmprojekte mit geringem Budget und vollem finanziellen Risiko realisierten – obwohl wissend, dass sie jederzeit scheitern können.

Die Einstellung der jungen Münchner Filmemacher, ihre Experimentierfreude und ihre Risikobereitschaft waren wegweisend und sind bis heute ein Ansporn für all jene vor und hinter der Kamera.

Zum Trailer von Zeigen, was man liebt:

Zur Film-Webseite: » Logomat Fillmproduktion